Integrierte Forschung will ethische, rechtliche, soziale und andere relevante Aspekte nicht mehr nur begleitend in Technikentwicklungsprojekte einbringen. Der Forschungsmodus sieht vor, dass Fachleute aus der Technikentwicklung mit jenen aus den Bereichen Ethik, Recht, Sozial- und Geisteswissenschaften in Entwicklungsprojekten von Anbeginn an zusam-menarbeiten. Zudem sollen Anwendende und Fachleute aus der Praxis mit einbezogen werden. Damit geht der Ansatz über bis dato praktizierte ELSI-Modelle (Ethical, Legal an Social Implications) hinaus. Das Cluster, bestehend aus Forschenden unterschiedlichster Disziplinen, nimmt die heutige und zukünftige Mensch-Technik-Interaktion in den Fokus und entwickelt diesen neuen Forschungsmodus.

Unter dem Schlagwort der Digitalisierung erleben wir derzeit eine neue Leistungsfähigkeit technischer Systeme, die als technische „Autonomie” bzw. hohe Automatisierung diskutiert wird und auf Miniaturisierung, Rechenleistung, maschinellem Lernen, Big Data und umfassender Vernetzung beruht. Diese Systeme dringen in alle Lebensbereiche vor. Die Schnittstellen zwischen Mensch und Technik werden unkenntlicher.

Integrierte Forschung soll angesichts dieses Wandels und der komplexer werdenden Probleme den Akteuren in der Technik-entwicklung, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu adäquaten Lösungswegen verhelfen und Werkzeuge an die Hand geben. Dies geschieht in einem inter- und transdisziplinären, integrativen Forschungs- und Entwicklungsmodus, der über herkömmliche Begleitforschung hinausgeht.

Die folgenden Überlegungen stellen einen Versuch der Verständigung innerhalb des Clusters „Integrierte Forschung“ dar und dienen als Impuls für eine weiterführende Reflexion und Konkretisierung. Sie bilden einen spezifischen Status quo ab und keinen finalen Stand. In diesen Text sind viele, teils kontroverse Perspektiven eingeflossen, deren Integration eine Form Integrierter Forschung darstellt. Das Cluster erhofft sich somit, eine Grundlage für die konzeptionelle und methodische Weiterentwicklung der Integrierten Forschung bereitzustellen.

Integrierte Forschung entstand als Leitidee im BMBF-Forschungsprogramm „Miteinander durch Innovation“. Kern dieser Leitidee ist eine Orientierung von Forschungs- und Entwicklungs-Prozessen „am Menschen“. Darunter fallen u.a. Dimensionen wie Privatheit, Autonomie, Gerechtigkeit, Inklusion, Partizipation, Teilhabe oder Wohlergehen. Insgesamt wird auch eine stärkere, gleichberechtigte Integration geistes- und sozialwissenschaftlicher sowie juristischer Perspektiven in der Technikgestaltung und Technikregulierung angestrebt. Als solches beschreibt sie einen inter- und transdisziplinären Forschungs- und Ent-wicklungsmodus, der bessere Produkte und Prozesse ermöglicht. Dem Anspruch nach zielt Integrierte Forschung auf einen Paradigmenwechsel ähnlich zur „Post-normal Science“ oder „Mode 2 Science“ und umfasst Praktiken der Integration von Forschenden in konkrete Kontexte der Technikentwicklung und deren Einbettung in verschiedene Gesellschaftsbereiche (integriert forschen), aber gleichzeitig auch die Integration von zuvor ausgeschlossenen Sichtweisen (integrativ forschen).

Integrierte Forschung kann im Kontext des Wissenschaftsdiskurses als transformative Reaktion auf drei verschiedene Problemhorizonte gegenwärtiger Technikentwicklung verstanden werden.

  1. Mensch-Technik-Interaktion wird als eine große gesellschaftliche Herausforderung wahrgenommen. Integrierter Forschung wird hierbei die Aufgabe zugeschrieben,
    a) ihren spezifischen Anteil an der gesellschaftlichen Verantwortung für verantwortbare
    Technikentwicklung an- und wahrzunehmen und
    b) ihr Handeln allgemein verständlich zu erklären und zu rechtfertigen.

Der soziotechnische Wandel im Zuge dieser Herausforderung muss tiefgreifender und multiperspektivisch verstanden werden; Gestaltungsimpulse für eine breite gesellschaftliche Deliberation über Mensch-Technik-Interaktion müssen bereitgestellt werden.

  1. Auf der Ebene der beteiligten Forschenden wird schließlich die unsachgemäße Monodisziplinarität zur Bearbeitung von gesellschaftlichen Herausforderungen kollaborativ geweitet und bestehende Konzepte von Inter-, aber auch Transdisziplinarität konstruktiv fortentwickelt. Hierbei werden der Integrierten Forschung folgende Aufgaben zugeschrieben:
  • die Erarbeitung von Handwerkszeug (Tools) für Forschende
  • die Förderung der Selbstreflexivität über Modi des Forschens und ihre Rahmenbedingungen
  • das Empowerment zur Navigation von Spannungen Integrierter Forschung in der Praxis
  • Vernetzung
  1. Neben einer solchen dezidierten Forschungsperspektive, die auf die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung zielt, reflektiert komplementär dazu Integrierte Forschung die Rahmenbedingungen für das Gelingen Integrierter Forschung (Förderprogramme, Lehre, Strukturen der akademischen Landschaft, Beschaffenheit größerer Innovations- Ökosysteme etc.) und
    a) hinterfragt deren Leistungsfähigkeit zur Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen kritisch,
    b) thematisiert deren Defizite explizit und
    c) erarbeitet Anregungen für Veränderungen solcher Programme im wissenschaftspolitischen Diskurs.

Integrierte Forschung verfolgt insbesondere folgende Zielsetzungen:

  • Die Herstellung neuer Perspektiven auf den jeweiligen Forschungs- bzw. Entwicklungsgegenstand (z.B. im Hinblick darauf, was überhaupt als Problem erkannt und benannt und dazu korrespondierend als Lösung anerkannt werden kann);
  • Das Hinausgehen über reine Begleitforschung, Hilfestellung zu Akzeptanzforschung oder tick-box ethics;
  • Eine verstärkte Einbindung nicht-technischer Fächer/Perspektiven sowie die Einbeziehung der verschiedenen Stakeholder in Technikforschungs- und -gestaltungsprozesse (wodurch auch die sog. Laien / Praxispartner adressiert werden können);
  • Die Sensibilisierung für nicht-technische Aspekte in Technikforschungs-, Technikgestaltungs- und Techniknutzungsprozessen;
  • Eine Irritation disziplinär eingeschliffener Selbstverständlichkeiten (etwa im Hinblick auf bestimmte Problemverständnisse);
  • Die Verbesserung der frühzeitigen Erkennung auch längerfristiger Chancen und Risiken von Forschungsprojekten (etwa mit dem Effekt, dass Entscheidungen über einen spezifischen Projektfortgang, inkl. eines etwaigen Forschungsabbruchs, bereits in einer frühen Projektphase informiert getroffen werden können);
  • Konkretisierung von Erkenntnissen, die im Rahmen z.B. von Leitlinien oder Prinzipien abstrakt formuliert werden, für den jeweiligen Kontext, wodurch Orientierung ermöglicht werden kann;
  • Eine wissenschaftlich fundierte und normativ orientierte Technikforschung und Technikgestaltung mit dem Anspruch, reale Wirkungen für die konkreten Lebenszusammenhänge von Menschen zu entfalten. Die Integrierte Forschung verfolgt hierbei den Ansatz, technische Systeme in ihren konkreten Anwendungskontexten zu erforschen, zu evaluieren und deren sozial und ethisch verantwortliche Gestaltung zu unterstützen.
  1. Integrierte Forschung ermächtigt nicht-technische Fächer zu einer aktiven, gleichberechtigten Partizipation an Technikentwicklung und -gestaltung, z.B. in Form eines Agenda Settings.
  2. Integrierte Forschung vermittelt den Teilnehmenden bestimmte Forschungskompetenzen, Ambiguitätstoleranz und intellektuelle Offenheit.
  3. Integrierte Forschung kann Problemverständnisse erschüttern, Imagination befruchten und flexible Herangehensweisen – bis hin zum Forschungsabbruch – realisierbar machen.

Integrierte Forschung hat vielfältige Bedingungen: Sie bedarf einer speziellen Haltung, die institutionell ermöglicht, eingeübt und angeleitet werden muss; darunter fallen die Fähigkeiten, sich heterogenen Perspektiven zu öffnen und den darin enthaltenen Machtkonstellationen, möglichen Irritationen und Dissensen produktiv zu begegnen. Diese Haltung wird durch Praxis erlangt; sie muss durch Handeln eingeübt werden; Gelingensbedingung dafür sind Konzepte und Kompetenzen, das Vorhandensein von Vorbildern, Räumen und Gelegenheiten zur (zunächst scheiternden) Einübung, Feedback zum Einübungsprozess und Gelegenheit zur Wiederholung. Das wäre für eine Etablierung von Integrierter Forschung zu ermöglichen und zu sichern.

Zudem müssen entsprechende Ressourcen und Möglichkeiten für eine ergebnisoffene Forschungspraxis bereitgestellt werden. Die Forschungspraxis sollte explizit auch die Möglichkeit (ergebnisoffene Forschung) des begründeten Forschungsabbruches bereit und sanktionsfrei halten. Bedingung für gelingende Einübung ist explizit eine Fehlerkultur. Die Freiwilligkeit der Teilhabe an der Integrierten Forschung muss institutionell abgesichert werden. Der Aspekt der Freiwilligkeit bedeutet, dass ein Modus oder eine Haltung im Sinne von Integrierter Forschung nicht als Zwang verordnet werden kann. Die Teilnahme und Einlassung muss freiwillig und motiviert erfolgen, wofür Anreize (v.a. bzgl. Gratifikationssysteme) geschaffen und Hindernisse (v.a. struktureller Art) abgebaut werden müssen.
Im Bereich der Mensch-Technik-Interaktion gilt für alle o.g. Aspekte Wechselseitigkeit für technische und nicht-technische Akteure. Wechselseitigkeit zwischen den Disziplinen (v.a. zwischen den technischen und nicht-technischen Bereichen) ist wesentlich für Integrierte Forschung im Bereich Mensch-Technik-Interaktion, insofern nicht ein Expertisengefälle von Integrierte Forschungs-Experten und technischen Anwendern/Entwicklern unterstellt werden kann, sondern sich im Kern beide Seiten gegenseitig informieren, irritieren und ihre Positionen und Perspektiven im Prozessverlauf wechselseitig transformieren sollten.

Praxis und Ziele sind prinzipiell miteinander verschränkt. Einerseits folgen einige Ziele der Integrierten Forschung direkt aus der Praxis: Kompetenzen und Haltungen werden in der Praxis erworben, sind gleichzeitig aber nicht voraussetzungslos und erfordern sowohl theoretische Grundlagen als auch personengebundene Fähigkeiten (vgl. Bedingungen). Andererseits folgen die Praktiken der Integrierten Forschung aus deren Zielen. In diesem Sinn können wir von zielgerichteten Praktiken oder praxis-konstituierenden Zielen sprechen.

Eine Möglichkeit, frühzeitig in Technikentwicklungsprojekte zu wirken, ist das Angebot zum Perspektivwechsel und die Provokation zu einem Blick, der die als gesetzt empfundenen Horizonte überschreitet. Um Integrierte Forschung besser zu verstehen und die entsprechende Haltung zu vermitteln, sollte sie bereits in der Lehre verankert und praktiziert werden. Ferner können Veränderungen der bestehenden Forschungspraxis hergestellt werden durch Ausrollen und Skalieren bereits vorhandener Praktiken: Methoden, Heuristiken, Checklisten, Tools und weitere anwendungsbezogene Materialien oder Vorgehensweisen, die bekannt, zugänglich und nutzbar gemacht werden. Darüber hinaus sollten politische Weichenstellungen strukturelle Veränderungen in der geförderten Wissenschaftspraxis ermöglichen.

Praktiken Integrierter Forschung könnten sein:

  • Kollaborative Prozesse (gemeinsame Entscheidungen treffen, Begriffe gemeinsam definieren oder schärfen).
  • Vermittlung spezifischer Forschungskompetenzen an Stakeholder und WissenschaftlerInnen (etwa eine wissenschaftlich kultivierte Ambiguitätstoleranz oder eine intellektuelle Offenheit, Neugierde und Kooperationsbereitschaft, digitale Mündigkeit).
  • Verständnisermöglichungen, etwa durch Praktiken des Rollentauschs oder von Austauschprogrammen, durch Ermöglichung multiperspektivischer Begegnungen, Vermittlungsformate, Übersetzungsleistungen schaffen, Beobachtungen und Selbst beobachtungen ermöglichen, reflektieren und in Bezug setzen: Fremd- und Selbstverständnisse verhandeln.
  • Ausbildungen (Studiengänge, Lehrerfortbildungen, Fortbildungen, Workshops, etc.), die Personen dazu befähigen, Transferleistungen zwischen Erkenntnissen von Einzelwissenschaften und Disziplinen zu leisten.
  • Integrierte Lehre, indem fachübergreifend (Geistes-, Rechts- und Naturwissenschaften) komplexe Mensch-Technik- Probleme erarbeitet werden. Dazu ist nötig, dass Wissen auf Weisen vermittelt wird, die Anschlusspunkte und Kopplungen wahren und
    gleichzeitig die Differenzen und Andersartigkeiten nicht ausblenden.
  • Erweiterung bzw. Beschränkung von Denk- und Handlungsspielräumen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene.

Das obige Positionspapier ist HIER als Pdf abrufbar.

Das Cluster Integrierte Forschung ist Teil des Programms „Miteinander durch Innovation” des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. In unterschhiedlichen Foren entsteht so Austausch mit diversen Disziplinen.

Wie funktioniert IF in der Praxis?

Der Kurzfilm des Cluster-Projekts ESTER zeigt an einem Fallbeispiel, wie integrierte Forschung aktuell in Technikentwicklungsprojekten umgesetzt wird.

Autorinnen: Mone Spindler, Céline Gressel (Cluster-Projekt Ester)

Das interdisziplinäre Team eines Technikentwicklungsprojekts diskutiert, wie die VR-Umgebung eines telemedizinischen Systems gestaltet werden soll. Ein Arzt, ein VR-Experte und ein Eye-Tracking Spezialist skizzieren ihre Vorschläge. Wäre eine Arztpraxis, eine Jahrmarktszene oder eine simulierte Autofahrt besser? Elsa, die im Projekt für ethische, rechtliche und soziale Aspekte zuständig ist, sitzt auch dabei. Was würde Elsa sagen?

Im Rahmen der BMBF-Veranstaltung „Ich, Zukunft und integrierte Forschung” am 3.11.2021 diskutierten Vertreter*innen aus Ethik, Soziologie, Co-Design und Recht, wie sie dieses Fallbeispiel integrierter Forschung einschätzen.

Berichte zu konkreten Praxis-Vorhaben der beteiligten Projekte im BLOG

Video: Das geteilte Ganze – Was ist Integrierte Forschung?