Probiert es aus. KI in der digitalisierten Demokratie

Autor*innen: Detlef Sack, Emilia Blank und Nora Freier; Bergische Universität Wuppertal, Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung

Heutzutage kommt kaum eine gesellschaftspolitische Debatte ohne das Thema KI aus. Und ja, das gilt natürlich und vielleicht auch besonders für die politische Beteiligung in digitalisierten Demokratien. Das ist insofern wenig erstaunlich als Digitalität eine „tiefe“, das heißt Alltagspraktiken durchdringende Technik ist, von der sich zu distanzieren nur um den hohen Preis der sozialen Abkapselung zu bekommen ist. Wenig überraschend für die Initialisierungsphasen derartiger Technologien gibt es eine berechtigte Hells and Heaven Debatte, die zwischen Heilserwartung (hier: neue agile Demokratie) und Düsternis (hier: der zuboffsche Surveillance-Kapitalismus auf Grundlage des gesteigerten behavioural surplus bzw. die social credit-Autokratie). KI ist hier – so Hofmann 2022 – entweder Mit- oder Gegenspielerin der Demokratie. Erst allmählich beruhigen sich die Gemüter bzw. werden – so viel Distanz zur eigenen Forschungspraxis sollte sein – auch dadurch beruhigt, das durch Forschungs- und Beteiligungsaufträge eine Involvierung erfolgt. Geht man davon aus, dass KI im Pfad einer digitalen Lebensweise und Subjektivierung operiert, dann ist davon auszugehen, dass dem aufgeregten Beginn (ja, auch wir beziehen uns auf den Launch des Chatbots ChatGPT 3 der Firma OpenAI im November 2022) eine Phase des Auslotens der Risiken und der Möglichkeiten von KI in demokratischen Regimen folgt. In reflexiven politischen Regimen findet ein dezentraler Prozess der Aneignung und Abweisung von KI als positive wie repressive Machtpraktik statt, die mit neuen Wissensformen verbunden ist. Wer sich an Foucault und sein Gouvernmentalitätskonzept erinnert fühlt, liegt richtig. Der Entwicklung von KI in digitalisierten Demokratien lässt sich kaum mit einem Konzept zentral organisierter, ausschließlich hierarchischer Macht beikommen. 

Politische Beteiligung besteht aus vielfältigen und heterarchischen Praktiken. Und wenn artikulationsstarken sozialen Milieus der Frust mit etablierten politischen Organisationen und Institutionen zu tief sitzt, dann wird die Suche nach Demokratieinnovationen dringlicher. Ein solcher Punkt ist jetzt! Neue Dialog- und Deliberationsformate werden eingeführt und zwar zeitgleich mit KI-Innovationen. Die politischen und die technologische Innovation sind nicht kausal miteinander verknüpft, sondern kommen lediglich zusammen vor. Das eine wäre sehr gut ohne das andere zu haben. Nun kommen also zwei Innovationen zusammen, und zwar in einer Phase der auslotenden Aneignung. Hier setzt das Projekt „Künstliche Intelligenz und Bürgerräte (KIB)“ an. Diese Bürgerräte sind eine losbasierte Beteiligungspraxis, in der Bürger:innen, die die Bevölkerung möglichst zutreffend statistisch repräsentieren, zu bestimmten Themen (etwa Klima, Mobilität oder Ernährung) gemeinsam konkrete politische Maßnahmen ausarbeiten. Bürgerräte werden häufig moderiert und es erfolgt zu den Themen, die behandelt werden, eine umfassende Information bzw. Wissensvermittlung. Sie finden auf der kommunalen, Länder- oder Bundesebene statt. Sie sind zeitlich befristet, auch wenn sich der Beratungsprozess über einige Monate erstrecken kann. Von Organisator:innen und Teilnehmenden wird erwartet, dass die Empfehlungen des Bürgerrates von Exekutive und Legislative ernsthaft und nachvollziehbar beraten werden. Aber der Bürgerrat als solcher entscheidet nicht. Er ist eine konsensdemokratisches Demokratieinnovation, die parlamentarische wie direktdemokratische Entscheidungsprozesse ergänzt bzw. ergänzen kann. 

In dem Projekt werden die Einsatzmöglichkeiten von KI in der Praxis der politischen Beratung von gelosten Bürger:innen untersucht: Durch welche Tools können das Verständnis von Teilnehmenden für politische Probleme und ihre Selbstwirksamkeit gestärkt werden? Welche Apps übersetzen aus anderen Sprachen, etwa der ungarischen oder der akademischen? Welche KI prüft die Richtigkeit von Informationen und sichert die Kontroversität des Wissens? Durch welche Software lässt sich der Umsetzungsgrad (neudeutsch: Impact) der Beratung auf Politik und Verwaltung monitoren? Welche Tools inkludieren und wen oder was schließen sie zugleich aus? 

KIB beforscht eine dynamische Praxis, die sich international zu verbreiten beginnt. Das Projekt ist damit ein Baustein eines gesellschaftswissenschaftlichen Untersuchungsunternehmens, in dem sich mittlerweile eine Forschungsheuristik etabliert zu haben scheint. Diese kombiniert Evaluationskriterien für die Stärkung zivilgesellschaftlicher Machtpraktiken (nämlich ermächtigende Inklusion, kollektive Willensbildung und kollektive Entscheidungsfindung, Warren 2017) mit einem Phasenmodell von Bürgerräten (McKinney 2024). Denn: KI ist nicht gleich KI – in unterschiedlichen Bürgerratsphasen können unterschiedlichste Applikationen und Tools zum Einsatz kommen. Beispielsweise lassen sich Chatbots zur Unterstützung von Wissenserwerb in der Phase des Lernens einsetzen, Übersetzungstools hingegen können während des gesamten Bürgerrates wertvolle Unterstützung leisten und Inklusion befördern. 

Mithilfe von Tools und Modellen lässt sich eine aktuelle Entwicklung ordnen und das ist richtig. Es entsteht der Eindruck, dass mit KI gesellschaftliche Beteiligung klug ergänzt, strukturiert, wenn nicht gar gesteuert werden könnte. Nur: Bürger:innen sind unordentlich und eigenwillig, KI ist dynamisch, richtig und verlogen, Politik und Verwaltung sind interessiert und ignorant.

KIB nähert sich der zufälligen Heirat von KI und Bürgerräten durch Probieren. Diejenigen, die sich vage an ihr Latinum oder an Angeber:innen mit Latinum erinnern, wissen, dass es sich dabei um die Besichtigung einer (digitalen) Architektur handelt, mit der die Tragfähigkeit geprüft wird. Probieren ist also eine bestimmte Wissenspraktik, die Chancen und Risiken bilanziert (und durchaus Kosten-Nutzen Kalkulationen einbezieht). Nun kommt Probieren aber nicht darum herum auch eine Machtpraktik mit ihren ermöglichenden und beschränkenden Seiten zu sein. Wem dienen also KI-Tools in Bürgerräten?

Das Probieren ist Element einer auslotenden Aneignung von KI durch Zivilgesellschaft und Politik. Der Kontext, innerhalb dessen diese stattfinden kann, ist jedoch durch eine mittlerweile Jahrzehnte währende Debatte über die Risiken (etwa Datenverkauf, menschverachtende Hass-Posts und die Unterdrückung zivilgesellschaftlichen Protests) einigermaßen präzise zu bestimmen: Dezentrale und befähigende Praktiken KI-gestützter Bürgerräte sind eingebettet in und werden ermöglicht durch einen Wettbewerb um Technologiemärkte, open source basierte Tools, eine starke zivilgesellschaftliche Community mit IT-Kompetenz und einen regulierenden und gewaltenteiligen Staat. Bei aller Digitalität: Das ist schon ein old fashioned Republikanismus, nur halt gouvernementalitätstheoretisch und digital gewendet.