Am 28. Februar und 1. März 2023 fand im Auditorium des TECHNOSEUM in Mannheim die 3. Fachkonferenz des Clusters unter dem Motto „Digitalisierte Lebenswelten und integrative Technikentwicklung“ statt. Das BMBF-Cluster hatte zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichsten Disziplinen zum Austausch über den Einbezug ethischer, rechtlicher, sozialer und anderer Aspekte in Innovationsprozesse eingeladen. Im TECHNOSEUM Mannheim wurde über die Bedingungen von Technikentwicklung diskutiert, Methoden wurden anschaulich dargestellt.
Unter dem Stichwort Integrierte Forschung wird seit 10 Jahren in Technikentwicklungsprojekten mit der Integration ethischer, rechtlicher, sozialer und weiterer Aspekte experimentiert. Unterschiedliche Kooperationsformen von Vertreter:innen aus Technik-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften wurden erprobt. Verwandte Konzepte wie Responsible Research and Innovation, Technikfolgenabschätzung, Co-Design, Partizipation etc. wurden dabei aufgegriffen und auch andere Wege beschritten. Eine Reihe von Tools, Heuristiken, Methoden, Checklisten sind entstanden. Gleichzeitig begann in unterschiedlichen Forschungskontexten die Auseinandersetzung mit der grundlegenden Frage, wie eine solche Forschung zu verstehen ist.
Das BMBF-Cluster Integrierte Forschung bot mit seiner Konferenz im TECHNOSEUM Mannheim Raum für Vernetzung und die Diskussion über Möglichkeiten, Herausforderungen und Zukunftsthemen des Forschungsmodus der Integrierten Forschung. Zwei Themen standen im Mittelpunkt der Konferenz: Zum einen ging es um die Digitalisierung von Lebenswelten. Zum anderen wurde integrative Technikentwicklung als Modus der Wissensproduktion reflektiert. Einige Vorträge der Konferenz sind auf dem YouTube-Kanal des Cluster Integrierte Forschung hier einzusehen.
Tagungsprogramm – Digitalisierte Lebenswelt und integrative Technikentwicklung.pdf
Katrin Nostadt, Referentin beim Bundesministerium für Bildung und Forschung, eröffnete die Konferenz mit einem Grußwort. Prof. Arne Manzeschke (Evangelische Hochschule Nürnberg EVHN) leitete in das Themenfeld der Konferenz ein. Am ersten Konferenztag wurde das Feld der Integrierten Forschung anhand von fünf Fokusfragen umrissen, weitergedacht und in den internationalen Kontext der integrativen Technikentwicklung und neuer Strömungen der Technikentwicklung gestellt. Die Beiträge der internationalen Gäste spiegelten aktuelle Debatten in diesem Forschungsbereich wider und erweiterten die Perspektive auf die Integrierte Forschung. Ein ToolsLab bot Gelegenheit, Praxiskonzepte zur Umsetzung Integrierter Forschung, wie z.B. Heuristiken, Checklisten oder konkrete gemeinsam mit deren Autor:innen zu erproben.
Am Abend waren Mannheims Bürger:innen eingeladen gemeinsam mit Expert:innen aus der Integrierten Forschung durch das Museum zu gehen und dort Technikentwicklungen an historisch relevanten Objekten zu diskutieren.
Die fünf Fokusfragen des ersten Konferenztages
- Wie verhält sich Kokreation zu Integration? Integrierte Forschung, kollaborative Innovation, ko-kreative Governance – die konzeptuelle Landschaft verantwortungsvoller Technikentwicklung ist vielfältig und entstammt den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen. Prof. Sabine Maasen (Universität Hamburg) eröffnete die Konferenz mit einer Keynote, in der sie aus wissenschaftssoziologischer Perspektive der Frage nachging, wie sich Ko-Kreation und Integration zueinander verhalten.
- Wie lassen sich nicht-menschliche Akteur:innen an Forschung beteiligen? Dr. Markéta Dolejšová (Aalto University) lud die Teilnehmenden zu einem „Spaziergang durch den Wald“ ein. Während Integrierte Forschung bisher darauf zielt, zu gehaltvolleren Formen der Einbindung von Menschen in Innovationsprozesse zu kommen, stellte Marketa Dolejšová den anthropozentrischen Fokus mit küonstlerischen Mitteln in Frage und zeigte neue Wege auf, wie zum Beispiel nicht-menschliche Akteur:innen, etwa Wälder und Hunde, beteiligt werden können.
- Wie lässt sich Ethik praktisch in Technikentwicklungsprojekte integrieren? Prof. Sabine Ammon (TU Berlin) berichtete aus ihrer Arbeit am Berlin Ethics Lab und stellte Methoden vor, wie ethische Aspekte in Technikentwicklungsprojekten nicht nur identifiziert, sondern frühzeitig adressiert werden können. Dabei bezog sie sich auf die Erfahrungen ihres Laboratoriums und schilderte neben den Herausforderungen der Integration auch „best practices“ im Umgang mit diesen.
- Wie kann man Recht als Türöffner integrierter Forschung denken und betreiben? Bei einer Podiumsdiskussion mit Prof. Herbert Zech (Weizenbaum Institut, Berlin), Alisha Andert (LL.M This is legal design) und Prof. Christian Djeffal (TU München) wurde die Rolle des Rechts in der Integrierten Forschung diskutiert. Unter der leitenden Frage, wie durch Legal Design die praktische Umsetzung von Recht befördert werden kann, wurden Chancen und Herausforderungen für Rechtswissenschaftler:innen in der integrierten Forschung diskutiert und kritisch reflektiert.
- Wie sieht der Arbeitsalltag von Forschenden aus, die Integrierte Forschung in Technikentwicklungsprojekten initiieren? Prof. Erik Fisher (Arizona State University) präsentierte Ergebnisse eines internationalen Twin-Workshops Living the work of integration des Cluster-Projekts ESTER. Er berichtete über die Motivationen der Forschenden, ihre Konzepte von Integration und analysierte die Bedingungen, die es Forschenden ermöglichen, ihre alltäglichen Forschungsarbeiten angesichts der Herausforderungen und Spannungen erfolgreich zu navigieren. Abschließend gab es für alle Konferenzbesucher:innen die Möglichkeit „Briefe“ an ihre Fördergeber zu verfassen, in denen ihre eigenen Erfahrungen (mit)geteilt wurden.
Das ToolsLab
Wie kann man Integrierte Forschung in der Praxis umsetzen? Wie können ethische, soziale, rechtliche oder andere „nicht-technische“ Aspekte von zu entwickelnden Technologien erforscht und transdisziplinär kommuniziert werden? Und wie können sie in Technikentwicklungsprozesse tatsächlich auch einbezogen werden? Mittlerweile sind zahlreiche Methoden, Tools und Heuristiken zur Umsetzung Integrierter Forschung entwickelt worden. Diese sind allerdings meist wenig bekannt und eine systematische methodologische Reflexion steht aus. Vor diesem Hintergrund lud die Taskforce Methodenreflexivität des Clusters Integrierte Forschung die Konferenzteilnehmer:innen zu einem interaktiven ToolsLab ein. Am ToolsLab wirkten die Autor:innen von sieben Praxiskonzepten mit. Sie boten die Gelegenheit, ihre Praxiskonzepte exemplarisch gemeinsam zu erproben und zu diskutieren. Mit dabei waren:
- MEESTAR, Prof. Arne Manzeschke (Ev. Hochschule Nürnberg) & Team
- AMTIR-Heuristik, Dr. Bruno Gransche (KIT) & Team
- ELSI-SAT, Prof. Petra Grimm (HdM Stuttgart) & Team
- Verschiedene Tools des Berlin Ethics Lab, Prof. Sabine Ammon, Wenzel Mehnert, Tim Hildebrandt (TU Berlin)
- STIR, Prof. Erik Fisher (Arizona State University) & Team
- The Tiles IoT Inventor Kit, Alexa Becker, Benedikt Haupt, Prof. Christian Pentzold (Universität Leipzig)
- REMODE: Re-booting content moderation, Prof. Christian Djeffal (TUM) & Team
Der Fokus des 1,5-stündigen Tools-Lab lag auf der praktischen Anwendung und führte zu angeregten Unterhaltungen und neuen Kooperationen.
Pick your Scientist!
Neben den thematisch spannenden und innovativen Diskussionen der Integrierten Forschung, war die Abendveranstaltung des ersten Tages ein besonderes Highlight der Tagung. Um 18.30 öffnete das Technoseum seine Türen für die interessierte Öffentlichkeit. Den Auftakt der Abendveranstaltung bildete ein Vortrag durch den Direktor des Museums, Dr. Andreas Gundelwein und die Museumspädagogin Anna Kammholz. Die beiden beschrieben historisch, wie Museen sich von fürstlichen Kuriositätenkabinetten zu modernen Zukunftsmuseen entwickelt haben und welche integrative Leistung mit den neuen musealen Formen einhergeht.
Im Anschluss daran, startete das Cluster Integrierte Forschung ein Experiment. Im interaktiven Format „Pick your Scientist!“ wurden Paare aus Wissenschaftler:innen und Bürger:innen gebildet, die gemeinsam zu einem freien Spaziergang durch die Ausstellung des Technoseums starteten. Die Ausstellung von mehr als 100 Jahren Technikgeschichte bot zahlreiche Anreize für Gespräche über die Integrierte Forschung. Themen waren etwa der Einfluss von Abakussen und Science-Fiction auf Roboter, die Entwicklung des Webstuhls für das Arbeitsleben und die Bedeutung von Druckmaschinen für die Demokratie. Man konnte sehen: Am greifbaren Beispiel wird vielen erst bewusst, wie Entwicklungen die Gesellschaft prägten und prägen.
Digitalisierte Lebenswelten
Der zweite Tag der Fachkonferenz war dem Thema der digitalisierten Lebenswelten gewidmet. Zentral für die Projekte ist die Frage, wie sich unsere Lebenswelten (im Plural!) durch Digitalisierung verändern und welche (Neu-) Orientierungen daraus für den einzelnen Menschen, aber auch für die Gesellschaft, etwa in Bildung, Sozialem oder am Markt erwachsen. Weil (digitale) Technik solche Orientierungsfragen aufwirft, zugleich aber auch Mittel der Orientierung sein kann, beschäftigen sich die Projekte
a) mit der theoretischen Fassung dieses Problems,
b) mit der praktischen Erprobung von Orientierungsinstrumenten und
c) mit der empirischen Erforschung von Orientierungsbemühungen.
Über ELSI hinaus – Was soll Integrierte Forschung leisten?
Eines der zentralen Themen im Cluster Integrierte Forschung und eine übergreifende Klammer ist die Frage nach dem Selbstverständnis der Integrierten Forschung. Wo geht diese über die sog. ELSI-Forschung (Ethical, Legal, and Social Implications) hinaus und warum muss hier notwendigerweise weiter/anders gedacht und geforscht werden? Prof. Arne Manzeschke (Evangelische Hochschule Nürnberg, EVHN) eröffnete mit seinem Vortrag den zweiten Tag der Fachtagung und stellte so die Verbindung zwischen der Arbeit des Clusters und der konzeptionellen Weiterentwicklung der Integrierten Forschung her.
Eine seiner zentralen Thesen zielt auf den Konnex zwischen technischen Innovationen und nicht-technischer Reflexion. Die doppelte strukturelle Ungleichzeitigkeit zwischen technischer Innovation und nicht-technischer Reflexion, die im Collingridge-Dilemma [https://de.wikipedia.org/wiki/Collingridge-Dilemma] formuliert worden ist, kann von der Integrierten Forschung sehr wohl produktiv bearbeitet, aber nicht wie ein Problem „gelöst“ werden. Diese Herausforderung gilt es, auf allen Ebenen (Individuen, Organisationen, Institutionen, globale Gesellschaft) theoretisch wie praktisch anzunehmen.
Leitbegriffe Integrierter Forschung
Integrierte Forschung steht immer im Zusammenhang mit Leitbegriffen, die im Cluster eine zentrale Rolle spielen. Lebensformen, Souveränität und Orientierung in Digitalisierten Lebenswelten bilden demnach die Gegenstände dreier Teilprojekte des Clusters. Dr. Bruno Gransche (KIT) in die Begriffe und ihre Definitionen im Cluster ein und ordnete Verbindungen und konzeptionelle Implikationen dieser Konzepte ein. So ist beispielsweise die Rede von „Lebenswelten“ im Plural – wie in der Clusterperspektive der „Digitalisierten Lebenswelten“ – im Sinne von „Alltagswelten“ zu unterscheiden vom philosophischen Fachbegriff der „Lebenswelt“ im Singular als das unhinterfragte Geflecht intersubjektiv geteilter Selbstverständlichkeiten.
Technikgestaltung muss in dieser Hinsicht immer auch als Transformation von Lebenswelt reflektiert werden und damit als explizite Veränderung unserer Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten, der Option, Lebensformen zu wählen. Lebensformen – das sind Ensemble von Üblichkeiten und Normen, von Praktiken, Verstehens- und Verhaltensweisen, von Kompetenzen und Meinungen. Sie zeichnen sich u.a. durch ihre Orientierungsfunktion für Lebensvollzüge aus, wobei idealerweise eine souveräne Lebensführung der Individuen in gerechten Institutionen gelingt.
Digitalisierte Lebenswelten sind ein Resultat technischen Gestaltungshandelns, die veränderte Optionen der Orientierung an und unter Lebensformen zur Folge haben. Diesen Zusammenhang herauszuarbeiten und in Praktiken der Technikgestaltung und -regulierung frühzeitig und andauernd zu integrieren, ist Anspruch und Herausforderung zugleich. Zu deren Umsetzung trägt das Cluster Integrierte Forschung speziell mit der Arbeit an den Leitbegriffen Lebenswelt, Lebensformen, Souveränität und Orientierung bei.
Integriert Forschen: Aus der Wissenschaft, mit der Praxis und zurück
Ob sich diese wissenschaftlichen Fragen auf der Ebene der „Praxis“ gleichlautend abbilden, oder ob hier ganz andere Themen vorherrschen, wurde in einer angeregten Podiumsdiskussion mit Dr. Katrin Schaar (Wissenschafliche Referentin beim Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten), Dr. Lothar Behlau (Leiter Programm und Strategie der Fraunhofer Gesellschaft) und Dr. Cord Schlötelburg (Leiter des VDE-Geschäftsbereichs Health) unter der Moderation von Dr. Bruno Gransche (KIT) und Prof. Arne Manzeschke (Evangelische Hochschule Nürnberg) diskutiert. Dabei ging es um Fragen der grundlegenderen und langfristigeren Orientierung von Technikgestaltung an wünschenswerten Optionen für die Menschen, Lebensformen in der digitalisierten Lebenswelt souverän zu wählen.
Wie weitermachen? Konkrete Problemlagen und erste Lösungsansätze am Beispiel der Projekte LeDiLe, SoDiLe und OrDiLe
Anschließend erhielten die Teilnehmenden noch Einblicke in die aktuellen Forschungsstände der Teilcluster-Projekte LeDiLe („Lebensformen in Digitalisierten Lebenswelten“), SoDiLe („Souveränität in Digitalisierten Lebenswelten“) und OrDiLe („Orientierung in Digitalisierten Lebenswelten“). Für LeDiLe adressierte Sebastian Nähr-Wagener (KIT Karlsruhe) den Wissenstransfer zwischen Industrie und Wissenschaft und stellte Ansätze für eine technikreflexive Weiterbildung von Akteuren der Technikentwicklung vor. Julia Marburger (Philipps-Universität Marburg) skizzierte ihre Erhebungen zum souveränen Umgang von Jugendlichen mit digitalen Techniken, Abdulmuttalip Erduran zeichnete rechtliche Fragestellungen nach. Dr. Galia Assadi präsentierte eine im Rahmen des Projektes OrDiLe entwickelte Heuristik, die Technikentwickler bei der Identifikation von (meist unreflektierten) Menschen-und Maschinenbildern unterstützt. Diese Reflexion auf Menschen-und Maschinenbilder trägt dazu bei, mögliche Passungsprobleme zwischen Entwicklervorstellungen und Nutzererwartungen frühzeitig zu erkennen und im laufenden Konstruktionsprozess zu adressieren.
Zum Abschluss der Konferenz gab Prof. Dr. Arne Manzeschke schließlich noch einen kurzen Ausblick auf das letzte Projektjahr des Clusters Integrierte Forschung, in dem unter anderem eine weitere Fachtagung im Frühjahr 2024 ansteht. Bei dieser sollen auch die in Mannheim diskutierten Themen weiter vertieft werden.
Einige Beiträge zur Fachkonferenz können Sie auf unserem Youtube-Kanal herunterladen.